Fortbildung

MANV-Übung in Gielde

Theorie ist gut – praktische Erfahrung besser.
Diese Aussage ist leider bei der Notfallseelsorge nur bedingt zutreffend. Praktische Erfahrung aufgrund einer realen Alarmierung bedeutet, dass es zu einem Ereignis gekommen ist, das psychosoziale Unterstützung erforderlich macht.

Möglichst realistische Szenarien kann man jedoch im Rahmen von Übungen trainieren.
Was zunächst eine erste Idee von Pfarrer Frank Ahlgrim als fachlichem Leiteiter der Notfallseelsorge Wolfenbüttel und Christian Wolff als Administrator des Notfallseelsorge-Teams war, nachdem sie sich gemeinsam im Juni eine Woche lang zum Fachberater PSNV und Leitendem Notfallseelsorger am NLBK (Niedersächsisches Landesamt für Brand- und Katastrophenschutz) hatten fortbilden lassen, nahm schnell in Kooperation mit dem Gemeindebrandmeister der Gemeinde Schladen-Werla, Daniel Zalesinski, eine ungeahnte Dynamik an.

Stichwort „H ZUG-2Y Unfall eines Zuges mit Personenschaden“, das hatte eine Vollalarmierung der Notfallseelsorge Wolfenbüttel gemäß der bei der Leitstelle Braunschweig hinterlegten Alarm- und Ausrückeordnung zur Folge.

Gott sei Dank lediglich eine Übung, aber dennoch Adrenalin und Stress pur bei allen Beteiligten von Feuerwehr und Rettungsdienst sowie der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV).

Für den ersteintreffenden Notfallseelsorger, der dann die Aufgabe des Leitenden Notfallseelsorgers übernommen hatte, galt es dann, sich einen Überblick zu verschaffen und 15 weitere Kolleginnen und Kollegen zu koordinieren und in Absprache mit der Einsatzleitung einzusetzen.

Zeitnah wurden dann noch weitere Kräfte des SbE-Teams zwischen Harz und Heide nachgefordert (SbE = „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“), denn es war schnell klar, dass auch eine Einsatznachsorge und gegebenenfalls ein On Scene Support (Betreuung im laufenden Einsatz) erforderlich sein könnten, da Feuerwehren und Rettungsdienst mit einer Vielzahl von extremen und belastenden Eindrücken konfrontiert wurden.

Genau das war ein wichtiges Element des Übungsszenarios, das nach Rückmeldung aller beteiligten Einheiten optimal vorbereitet war.

Aus den jeweiligen Fachbereichen waren Beobachtende vor Ort, um dann separat die gewonnenen Erkenntnisse über die Vorgehensweise und Zusammenarbeit der verschiedenen beteiligten Organisationen auszuwerten und für die Zukunft zu optimieren.

Für das Team der Notfallseelsorge im Landkreis war es die erste Großübung und eine erste gemeinsame Aktion zwischen den bereits länger aktiven Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorgern sowie den gerade neu ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen, die sich derzeit noch in der Hospitationsphase befinden. Das erste Fazit ist erfreulich positiv. Die Übung war einerseits sehr lehrreich für alle Ebenen der Notfallseelsorge und zugleich auch eine gute teambildende Maßnahme.

Presseberichte über die Großschadenslage-Übung vom 15.10.2022


Fortbildung in Eschede

80 Kilometer und eine knappe Autostunde vom Standort der PSNV-Kräfte im Landkreis Wolfenbüttel entfernt, gilt die mit dem Ortsnamen Eschede schicksalhaft verbundene ICE-Katastrophe als Geburtsort der Notfallseelsorge in Deutschland.

Um 10:59 Uhr entgleist am 3. Juni 1998 der ICE 151 Conrad-Wilhelm-Röntgen bei Tempo 200 an einer Weiche in Eschede und prallt gegen die Pfeiler der Rebberlaher Brücke.

Die ersten vier Waggons können die Brücke noch passieren, dann stürzt die 200 Tonnen schwere Brücke ein und zerquetscht den fünften Waggon halb, die restlichen sieben Waggons schieben sich zusammen, der vordere Triebkopf kommt nach zirka zwei Kilometern zum Stillstand. 101 Menschen sterben, viele werden zum Teil schwer verletzt, einige leiden noch immer unter den Folgen. Die bedrückenden Bilder mussten auch von den zahlreichen Einsatzkräften verarbeitet werden.

Katastrophen kommen aus heiterem Himmel und haben eine ganz eigene Dynamik. Das haben die PSNV-Staffel Wolfenbüttel und Mitglieder der Notfallseelsorge Wolfenbüttel bei ihrem Einsatz im Rahmen der Flutkatastrophe im Ahrtal festgestellt.

Eschede wurde nun Mitte März 2022 Ort einer zweitägigen Fortbildung der beim DRK-Kreisverband Wolfenbüttel im Bereich des Katastrophenschutzes organisatorisch angegliederten PSNV-Staffel, um mit leitenden Einsatzkräften der damaligen Katastrophe ins Gespräch zu kommen und vor Ort Erfahrungen auszutauschen. Insgesamt 9 Mitglieder des Wolfenbütteler Notfallseelsorge-Teams engagieren sich auch in der PSNV-Staffel des Katastrophenschutzes im Landkreis Wolfenbüttel und war mit 7 Teammitgliedern bei der Fortbildung in Eschede vertreten.
Begleitet von seinem Impulsreferat zu Katastrophenfällen und deren psychischer Bewältigung war die Fortbildung inhaltlich von Pfarrer a. D. Dr. Lothar Stempin (der auch den Kontakt zu den Ansprechpartnern vor Ort vermittelt hatte) vorbereitet worden.

Von Augenzeugen und mit den Abläufen gut vertrauten Fachleuten, die seinerzeit verantwortlich leitend den Einsatz maßgeblich koordiniert hatten, das Szenario und das Vorgehen an der Unglücksstelle und heutigen Gedenkstätte geschildert zu bekommen, hatte eine beeindruckende Intensität. Vor Ort standen der ehemalige Kreisbrandmeister Gerd Bakeberg und der damalige stellvertretende Gemeindedirektor Klaus Drögemüller dem Team Rede und Antwort und führten die Gruppe durch Eschede, erläuterten die Abläufe und gaben viele Hintergrundinformationen auch zur Zeit nach dem Unglück und zu dessen Aufarbeitung.

Angesichts der Dimensionen der Katastrophe fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, aber es gab seinerzeit wohl doch so etwas wie das sprichwörtliche „Glück im Unglück“, wie beispielsweise, dass infolge einer baustellenbedingten Gleisbaustelle in der Nähe von Hannover es keine Begegnung von zwei ICE auf der Strecke gekommen ist und der Unglückszug „nur“ alleinbeteiligt war sowie die Unglücksstelle logistisch gut zugänglich war. Zudem war die örtliche Einsatzleitung durch die verheerenden Waldbrände in der Heide 1975 bereits mit Großschadenslagen vertraut und man hatte die damaligen Probleme erkannt, ausgewertet und versucht Vorsorge zu treffen.

Äußerst beeindruckend waren die Schilderungen zu den von den Verantwortlichen eingeleiteten Maßnahmen und dazu, was sich an Eigendynamik durch die Bevölkerung von Eschede sowie unmittelbaren Anwohner spontan entwickelt hatte.

Wenn es eine Lehre aus der Katastrophe und klare Empfehlung an andere Katastrophenschutzeinheiten gibt, dann vor allem die, dass unmittelbar alles, was mobilisierbar sein könnte, auch umgehend alarmiert wird. „Groß denken und handeln“ sei das erste Gebot der Stunde, so die erfahrenen und maßgeblich an der Bewältigung der Einsatzlage beteiligten damaligem Verantwortlichen. Es wurden 1998 alle überregional angebotenen Hilfen angenommen und versucht, strukturiert die Großschadenslage abzuarbeiten. Wenn man die Bilder und Berichte vor Augen hat mit der ungefähr 700 Meter langen Unglücksstelle und dem unvorstellbaren Maß an Zerstörung, schwer zugänglichen verkeilten Waggons und Großzahl an Verunglückten, dann ist es rückblickend schon beachtlich, dass bereits gegen 14:30 Uhr alle Verletzten geborgen und auf dem Weg in die Kliniken waren.

Sehr interessant war auch zu hören, wie parallel zum Abarbeiten der eigentlichen Unglücksstelle neben vielen anderen einzuleitenden Maßnahmen unter anderem die Steuerung einer geordneten Medienberichterstattung organisiert wurde. Das Interesse an der Berichterstattung von vor Ort durch die vielen Medienberichterstatter wurde durch geordnete und begleitete Führungen in einem vorgegebenen Zeitfenster und ausgewählten Einsatzabschnitten sichergestellt, ohne dass die Bergungsarbeiten dabei erschwert oder gestört wurden. Zudem wurde unter anderem umgehend für die Trauerbewältigung ganz in der Nähe der zerstörten Brücke mit einem großen aus Paletten improvisierten Kreuz ein Ort der Trauer zur Ablage von Blumengebinden geschaffen, was sich als sehr hilfreich und wichtig herausgestellt hatte. Dieser Ort der Trauer ist heute die am Unglücksort errichtete Gedenkstätte mit ihren 101 Kirschbäumen.

Im Einsatz waren bei dem Unglück zirka 1.900 Mitarbeitende vom Rettungsdienst, Technischem Hilfswerk, Polizei und Bundeswehr sowie rund 500 Einsatzkräfte der Feuerwehr, ferner der Rettungsdienst mit 274 Einsatzkräften. 40 Ärztinnen und Ärzte und 39 Notärztinnen und Notärzte sowie 268 Mitarbeitende des nichtärztlichen Rettungsdienstes waren ebenfalls in die Rettung eingebunden. Die Feuerwehren hatten 100 Fahrzeuge im Einsatz, 19 Hubschrauber, 42 Kranken- sowie 46 Rettungswagen waren vor Ort. Die Bundeswehr war mit 190 Soldaten, drei Bergungspanzern, drei Transall-Transportflugzeugen sowie 18 Hubschraubern vertreten.

Selbst für routinierte Helferinnen und Helfer bedeutete die Verarbeitung des Unglücks eine außergewöhnliche psychische Belastung. Die Vielzahl von Verletzten und tödlich verunglückten Menschen waren Bilder und Erlebnisse, die sich tief in die Psyche der Helferinnen und Helfer eingebrannt haben.

Das Zugunglück von Eschede war das erste große Unglück in Deutschland, bei dem anschließend systematisch und in großem Umfang Einsatznachsorge betrieben wurde, um über einen langen Zeitraum die belasteten Einsatzkräfte zu unterstützen und zu begleiten.

Auch die im Landkreis Wolfenbüttel tätigen Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorger, die teilweise auch im System der Einsatznachsorge tätig sind, helfen bei der Bewältigung besonders belastender Einsatzerfahrungen, wie sie zum Beispiel bei schweren Verkehrsunfällen oder dem Massenanfall von Verletzten auftreten können.

In diesem Rahmen ist es Standard, sich regelmäßig entsprechend fortzubilden, um im Bereich der Psychosozialen Notfallversorgung und auch zur Qualitätssicherung für den Ernstfall und mögliche Einsatzszenarien gut vorbereitet zu sein. Neben theoretischen Fortbildungen, Rollenspielen und Dienstabenden ist da der praktische Erfahrungsaustausch wie mit den Kollegen der damaligen Einsatzleitung in Eschede ein wichtiger und hilfreicher Baustein.

Die Fortbildung wurde zugleich auch zum Anlass genommen, sich inhaltlich mit möglichen neuen Herausforderungen der aktuellen Lage der Kriegsflüchtlinge und der Helfenden zu befassen und sich organisatorisch und fachlich vorzubereiten.

Ergänzende Hinweise zur Gedenkstätte in Eschede:
https://www.eschede.de/seite/421574/ice-ungl%C3%BCck-ein-gang.html